Offener Brief an Haile Gebrselassie
Lieber Herr Gebrselassie, lieber Haile (ich glaube, wir Läufer dürfen uns duzen), nach deinem Rücktritt vom Rücktritt kann ich es mir nicht verkneifen, dir ein paar Zeilen zu schreiben. Nimm diese bitte nicht so sehr als Kritik, sondern vielmehr als Mutinjektion für deine weiteren Aufgaben.
Ein paar Mentaltipps für den desillusionierten Profi ...
Als Sportpsychologin verfolge ich deine Karriere gespannt. So erfolgreiche Sportler wie du – schließlich nennen sie dich „König“ oder auch „lebende Legende“ – müssen eine enorme mentale Stärke besitzen. Deshalb war ich überrascht, dass du so spontan eine lebensverändernde Entscheidung triffst und deine Gefühle nicht mehr im Griff hattest. Habe ich da sogar Tränen gesehen?
Zugegeben, ich war zugleich auch ein kleines Bisschen froh. Weltstars sind zum Glück auch nur Menschen. Jedoch Menschen mit einer starken Persönlichkeit, mit einem eisernen Willen und einem unglaublichen Durchhaltevermögen. Da stellt sich für mich als Sportpsychologin natürlich die Frage, warum ein so erolgreicher Athlet wie du nach einer Niederlage so schnell aufgeben wollte.
Selbstüberschätzung?
Ich lasse an dieser Stelle mal meinen Gedanken freien Lauf: Auf einer langen Erfolgswelle vergisst man manchmal, dass man nicht unantastbar ist. Wir Psychologen würden von einem „ausgeprägten Selbstvertrauen“ sprechen, so mancher vielleicht auch von Selbstüberschätzung, ein paar sogar von Größenwahn. Den man allerdings ohne Zweifel braucht, wenn man an der Weltspitze mitmischen will. Eine so erfolgreiche Karriere wie du sie hattest bringt natürlich auch einen großen Druck mit sich: Deine Gegner trachten bei jedem Lauf danach, dir deinen Titel abzuringen. Die Medien, Trainer und Manager erwarten immer wieder neue Erfolgsmeldungen. Und mit jedem neuen Sieg wird sowohl die Idee der Unantastbarkeit genährt als auch der Druck seitens des Umfelds ständig größer.
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Hohe Erwartungshaltung, Druck von außen
Wie schlimm muss in dieser Situation eine Niederlage sein. Nicht nur, dass die ganze Welt auf einen schaut. Stellt sich also die Frage, ob deine Erwartungshaltung nicht zu hoch war. Wobei man fairerweise anmerken muss, dass du in New York schon mit einer Knieverletzung ins Rennen gegangen bist. Jeder Mensch – egal ob Weltmeister oder Hobbysportler – unterliegt gewissen biologischen Grenzen. Und der Allerjüngste bist du halt auch nicht mehr. Da haben auch Medikamente und Massagen eine begrenzte Wirkung, auch wenn wir immer das Gegenteil beweisen wollen.
Welche konkreten Tipps ich Haile Gebrselassie in seiner derzeitigen Situation gebe, liest du auf der nächsten Seite.
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